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"Schlüsselkinder"

 

eine Aktion wird vorbereitet... aber es ist viel mehr

Erlebnisbericht des Projektleiters - 29.11.2016

Vorbemerkung: Unmittelbar nach dem erlebten schrieb ich diesen Text. Ich musste ihn schreiben.

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Ich sah im Fernsehen, dass in Potsdam die Barberine, ein in Aufbau befindliches Kunstmuseum, sich für Besucher geöffnet hat. Noch sind keine Exponate ausgestellt und so kann man einen unverstellten Blick auf die Architektur erhalten.

Ich entschied, heute nach Potsdam zu fahren und mir die Barberine anzusehen. Ich bin ja Rentner und habe Zeit.

 

Während ich beim Morgenkaffee im Internet recherchiere, ploppt eine E-Mail auf. Darin wird mir mitgeteilt, dass ich schnell den Finanzbedarf für mein "Schlüsselkind"-Projekt für den Rest des Jahres anzeigen müsse. Ich hätte noch einiges mit den 12 bis 15jährigen Mädchen und Jungen der verschiedenen Asylbewerberunterkünfte vor. Ich bin ja Rentner und habe Zeit.

Warum sollte ich Ideen nicht während meiner Exkursion nach Potsdam finden? Ich rufe eine Mitarbeiterin einer Unterkunft an und schildere ihr meine Überlegung. "Klingt gut", höre ich und "Komm mal vorbei. Da können wir das genauer besprechen." Natürlich fahre ich vorbei. Ich bin ja Rentner und habe Zeit. ​Auf dem Weg dahin kommt mir die Idee, einige meiner "Schlüsselkinder" mitzunehmen. Das habe ich schon während meiner beruflichen Tätigkeit als Sozialarbeiter gemacht: Projekte für Piepels funktionieren immer dann, wenn junge Leute diese mit vorbereiten.


Wenn Amir (13) mitfährt, dann mmüsste auch Halim (14) dabei sein. Beide kommen aus Syrien. Amir hat kein Gehör aber Halim hat die Gabe, sich mit ihm verständigen zu können. Wenn ich das Gelände der Unterkunft betrete, kommt immer wieder Amirs Mama auf mich zu, um mir zu danken, dass ich ihren Sohn an allen Aktionen teilnehmen lasse. Vielleicht nehme ich Amirs Mama ebenfalls nach Potsdam mit.


Ich schildere der Mitarbeiterin meinen Ideenstrauß. Wieder antwortet sie: "Klingt gut!" und "Passt besonders gut". Sie erzählt mir, dass Amir und Mama bald nach Potsdam ziehen, weil er dort an einer Gehörlosenschule unterrichtet werden soll. Ich bin begeistert. Mehr als ein halbes Jahr habe ich Amirs Entwicklung erlebt. Inzwischen kann er sich verständlich machen, sinnvolle Laute bilden und seinen großartigen Witz zeigen.

 

Die Mitarbeiterin geht zu Amir und seiner Mama. Als sie wieder kommt sagt sie: "Ja, beide kommen mit. Dauert aber noch 20 Minuten."
"Und Halim?" - "Hab ich vergessen. Gehst du selber fragen?" Klar gehe ich selber. Ich bin ja Rentner und habe Zeit.

Zuerst gehe ich in den Küchenraum, weil ich hoffe, dort Halim, seinen Bruder oder die Mama zu treffen. In keinem der Unterkünfte habe ich bisher die Schwelle zu den Zimmern überschritten. Dieser kleine Raum gehört den dort lebenden Menschen. Da drinnen habe ich nichts zu suchen.

Zum Glück treffe ich auf dem Flur die Mama und frage nach Halim und seinem Bruder. Halim ist da. Er schläft. Es ist halb drei nachmittags. Ich deute an, dass ich ihn  mitnehmen möchte. Sofort geht Mama zum Zimmer und öffnet weit die Tür. Die Schwelle überschreite ich nicht. Aber ich sehe einen etwa 4 Meter mal 4 Meter großen Raum und dass sich Mama redlich bemüht, Wohnlichkeit zu erzeugen. Trotz oder wegen der beiden halbwüchsigen Söhne, mit denen sie hier drinnen lebt.

Halim hebt den zerzausten Kopf vom Kissen. Offensichtlich ist er nach der Schule mit allen Klamotten auf sein Bett gefallen und fest eingeschlafen. Halim lacht mich an und reibt sich die Augen: "Guten Morgen. Wie geht es dir?"

Gern hätte ich ihn wieder schlafen geschickt. Nach meiner kurzen Erwiderung mit "Gut", erzähle ich ihm, dass ich nach Potsdam wolle und Amir auch mitkomme. "Willst du auch mit?"

Halim strubbelt über seine tiefschwarzen Haare: "Ja, aber noch ein bisschen essen. Und wer noch? Walid auch?" So ist Halim. Immer denkt er auch an Amir, Walid oder die anderen.

Walid (15) kommt aus Afghanistan und wirkt ausgeglichen. Mama, Papa und Geschwister sind da. Ich frage nicht, woraus sich dieses Glück speist. Ich freue mich für ihn, dass das so ist und nehme mit Besorgnis aktuelle Nachrichten zur Kenntnis, wonach zunehmend mehr Afghanen abgeschoben werden - in "sichere Regionen" nach Afghanistan. Nur vorsichtig spreche ich mich den Kids über solche Themen. Ein junger Afghane (14) sagte vor kurzem zu mir: "Zurück geht nicht. Papa dann sofort tot. Dann wir auch."

 

Nun sitze ich im Büro und stelle fest, dass mein Kleinwagen für fünf Personen nicht so optimal für die Potsdamtour geeignet ist. "Pah, einfache Übung" - jedenfalls in dieser Unterkunft: "Da nimmst du unseren Kleinbus." Der zufällig anwesende große Chef des Trägers dieser Unterkunft stimmt, ohne gefragt zu sein, dem sofort zu. Ich weiß, dass es hier auch klappt, wenn man ihn fragen würde - in anderen Unterkünften erlebe ich das nicht immer so.

Endlich sind die Jungs und Amirs Mama fertig. Mein Programm habe ich modifiziert. Während des Wartens und dem Gespräch mit der Mitarbeiterin und dem großen Chef habe ich die Adresse der Gehörlosenschule in Potsdam im Internet gefunden und in mein Navi eingegeben. Die Fahrt ist lang aber lustig. Walid und Halim verstehen mich sehr gut. Halim übersetzt für Amirs Mama. Es belustigt mich, dass der ruhige Afghane Walid den Syrer Halim auf Deutsch korrigiert und riesigen Spaß dabei hat.


Es ist schon dunkel, als wir in die Straße zur Gehörlosenschule fahren. Amirs Mama wird aufmerksam. Sie war auf ihrem Handy "die Strecke mitgefahren" und erkannte nun, dass hier ihre künftige Wohnung sein wird. Dabei hat sich wohl jemand etwas gedacht. Schule, Straßenbahnstation und Supermarkt sind in der Nähe. Mama scheint zufrieden.

Ich erinnere mein Ziel: wir wollen eine Potsdam-Tour mit den "Schlüsselkindern" vorbereiten und fahren die "Breite Straße" entlang. Am Ende der Straße erkennen die Jungs eine Moschee. Halim fragt: "Warum ist das da oben so komisch?" Er meint den Halbmond, der auf dem Rücken liegt und aus der Mitte auch noch ein Strahl heraussticht. Ich verwerfe, das mit "Blitzableiter" zu erklären und doziere stattdessen, dass das keine Moschee, sondern ein Pumpwerk, eine Fabrik, eben Technik sei. Tausend Fragen. Ich stoße an die Grenzen meiner Erklärungskraft und rette mich mit der Frage: "Wollen wir uns das bei unserer Tour einmal genauer anschauen?" - Einhelliges JA.

Beim Vorbeifahren am Kaiserbahnhof rede ich über Friedrich den zweiten und ihm folgende Könige und Kaiser. Wir dürfen am Eingang zum Neuen Palais eigentlich nicht parken aber es ist schon dunkel. Die Kids und die Mama finden es schön vor dem Neuen Palais - Ich nenne es "das große Schloss".Wir machen verrückte Fotos. "Wollen wir da mal rein?" - "Jaaaa!" - ich bin zufrieden: ein Programm nimmt Gestalt an. Während wir in den Kleinbus steigen fragt Mama: "Ist das hier Zentrum Potsdam?" Ich verstehe. Wir müssen zum "Broadway", so nennen manche heute noch die "Brandenburger Straße".

Vorbei an der Orangerie, den Neuen Kammern, der Historischen Mühle, dem Schloss Sanssouci - ich nenne es das "kleine Schloss". Eigentlich will ich zu jedem Ort  etwas sagen. Aber besser ist es jetzt, Spaß zu machen. Halim muss pullern. Es geht gerade noch mit ihnen zu klären, dass sie überall rein wollen.

​Bassinplatz. Es ist etwa 17:30 Uhr und die öffentliche Toilette dort ist zu. Die harten Witze der Jungs in Bezug auf Halim Problem sind so, wie ich sie auch von deutschen Piepels kenne. Selbst Amir haut da richtig rein. Halim hat zusammengekniffene Augenbrauen.


Mir tut er leid. Er behauptet, dass es nicht so schlimm sei. Ich empfehle ihm, hinter einem Busch zu gehen - er schaut mich erschrocken an: "Das geht doch nicht." - "Aber es ist doch dunkel. Niemand sieht etwas." - "Aber das macht man doch nicht!"

Ich weiß: wenn ich alter Mann pieseln muss, dann muss ich. So geht es dem Jungen jetzt auch. Wir laufen einige Meter weiter. Dann schicke ich Halim zurück zum Busch, und er flitzt.

Fröhlich erreichen wir den "Broadway". Weihnachtsmarktbuden. Wir gehen zusammen ein paar hundert Meter. Amirs Mama zeigt mir an, dass sie genug gesehen hat. Sie scheint zufrieden zu sein. Es geht zurück zum Kleinbus. Halim zwinkert mir zu: "Ich könnte noch weiter laufen."

Im Bus ist Handy-Time. Mama schreibt mit jemanden, Amir spielt, Walid hört Musik und singt sogar leise mit. Als Halim sein Handy zückt sage ich "NEIN". Er ist Beifahrer und muss den "Fahrer unterhalten". Obwohl es im Bus dunkel ist, kann ich aus den Augenwinkeln sein Grinsen erkennen. Er steckt das Handy weg. Wir reden belangloses, spaßiges und ich lasse den Pädagogen wieder heraushängen. Immer wieder versuche ich ihm etwas zu erklären. Und Halim nimmt alles auf. Er lernt. Das macht müde. Er gähnt und erklärt mir: "Morgens um 6 Uhr aufstehen. Dann Schule und lernen. Deshalb schlafe ich immer nach Schule."

Es kommt noch einiges hinzu. Bei einem Besuch in der Unterkunft hatten mich seine Mama, ein Onkel und der ältere Bruder zum Tee und Gebäck eingeladen. Sie legten mir Papiere deutscher Behörden vor, deren Inhalte ich erst nach dem vierten Lesen verstanden hatte. Halim, der in der Familie am besten Deutsch kann, vermittelte was ich auf Deutsch zu den Papieren sagen konnte. Seine Rückfragen und Übersetzungen der Reaktionen der Familienmitglieder forderten dem vierzehnjährigen Junge extrem viel ab. So geht es gerade vielen ausländischen Kindern hier.

Wir müssen einen Stau am Schönefelder Kreuz umfahren. Ich bin ja Rentner und habe Zeit. Halim fragt mich nach Autos. Alle Typen werden durchgehechelt. Sein Papa hatte einmal einen Mercedes - "einen alten", wie er betont. Aber das war vor seiner Geburt gewesen. Später, Papa hatte dann einen Mitsubishi, saß er als sechsjähriger auf Papas Schoß und hatte das Lenkrad gedreht. Ich höre schweigend zu - den Papa gibt es nicht mehr.
Halim taucht nun doch ins Handy ab und mir ist es recht. Ich brauche auf seine Geschichte nicht reagieren. Kurz vor der Autobahnabfahrt hält er mir sein Handy hin und sagt: "Mein Haus." Ich kann nur kurz von der Straße wegschauen und auf dem Handy nichts richtiges erkennen. Ich bitte ihn, mir das nach der Ankunft zu zeigen. Er sagt "Okay" und steckt das Handy weg.

In der Unterkunft angekommen, bedankt sich Amirs Mama wieder überschwänglich. Freundlich wehre ich ab und sie geht in ihr Zimmer. Die drei Jungs bleiben noch. Sie wissen, dass ich mich mit ihnen im Büro oder beim Wachschutz ab- aber auch wieder anmelde. Der Wachschutzmann bedankt sich und scherzt mit den Jungs - auch mit Amir. Ich verabschiede ich mich von ihnen im Flur - draußen ist es kalt.

 

Halim wollte mir noch etwas zeigen und sucht es auf seinem Handy. Mit großen Augen hält er es mir entgegen: "Mein Haus." Ich sehe ein Luftbild, erkenne aber wenig und bitte ihn, mir genaueres zu zeigen und zu beschreiben. Halim zeigt auf ein Areal des Satellitenbildes: "Das das mein Haus. Bum und alles weg. Daneben das ist Haus von Onkel. Auch bum und weg."
Ich sehe nur noch verschwommen, dass es sich um Fundamentreste von Häusern handelt. Ohne Halim anzuschauen gebe ich das Handy zurück. Ich bin steif. Der Junge umarmt mich.

​Draußen ist es kalt. Die Barberine habe ich nicht gesehen. Ich bin ja Rentner und habe noch Zeit dafür.

- alle Namen sind geändert - leicht gekürzt - vollständiger Text HIER

© Günter David, 29.11.2016

die 3 Jungs waren dabei - Klick vergrößert

TRÄGER:

 

Humanistischer Regionalverband
Ostbrandenburg e.V.

ZEITRAUM:

11.07. - 31.12.2016

 

TEILNEHMER:

deutsche und ausländische Jugendliche

von 12 bis 15 Jahre

vor dem Neuen Palais - KLICK vergrößert

Amir springt ins Bild - Halim ist cool - KLICK vergrößert

Halim - KLICK vergrößert

Walid - KLICK vergrößert

in der Brandenburger Straße - KLICK vergrößert

Slideshow - KLICK vergrößert

diese Bilder hat Halim bei der Anreise nach Potsdam geschossen...

im Zusammenhang mit der Geschichte macht das nachdenklich ...

Heute (16.12.2016) fand ich im Internet ein Bild vom 09. März 2013. Es zeigt Halim in den Trümmern seines Hauses - er hat mir die Veröffentlichung erlaubt...

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